„Ich vertraue Dir blind“- eine Exkursion in die Welt der Dunkelheit

„Ihr werdet gleich Euren wichtigsten Sinn aufgeben.“ Mit diesem Satz gab Jens uns einen Langstock und nach einer kurzen Einweisung führte er uns in einer Reihe in einen Flur. Um die Ecke war Dunkelheit. Nicht so, wie man es vielleicht abends in einem normalen Raum vorfindet. Nein, es war stockduster. Ab jetzt waren Tast- und Hörsinn unsere einzigen Hilfsmittel zur Orientierung und natürlich Jens, dem wir nun blind vertrauen mussten.

Die Exkursion mit Ober-, Unterkurs und Lehrlogopäden führte uns dieses Mal nach Hamburg. Nach einer kleinen Stärkung im Meßmer Momentum gingen wir gemeinsam zum Dialog im Dunkeln. Das Dialoghaus ist Teil einer weltweiten Initiative, welches sich für eine inklusive Gesellschaft einsetzt. Die Ausstellungen und Workshops drehen sich rund um das Erleben der Welt der nonverbalen Kommunikation, die Welt des Lebens über 70 und das Erleben der Welt der Dunkelheit. Um letzteres sollte sich auch unser Besuch im Dialoghaus drehen.

In 8er Gruppen eingeteilt, starteten wir nacheinander ins Dunkel. Die Gruppen werden jeweils von einer Person begleitet, welche blind oder sehbehindert ist. Jens, welcher meine Gruppe begleitete, hat aufgrund eines Gendefekts mit 15 Jahren sein Sehen bis auf 5% verloren und kann seitdem nur noch leichte Umrisse erkennen. Mit Langstock ausgerüstet und einer Hand auf der Schulter des Vordermannes führte Jens uns in die Dunkelheit. Sofort fingen alle Sinne an Informationen aufzunehmen, auch der Sehsinn versuchte Anhaltspunkte zu finden…vergeblich. Wo bin ich? Was ist vor mir? Neben mir? Viele Fragen schießen einem in den Kopf und nach anfänglicher Unsicherheit fängt man an sich zu orientieren. Was hatte Jens gesagt, wo wir hingehen? Ein Park? Ich fühle Kies unter meinen Füßen, Vögel zwitschern um mich herum und wenn ich meine Hand ausstrecke, kann ich sogar einen Busch fühlen. Ja, wir sind tatsächlich in einem Park. Tief durchatmen und einen Schritt vor den anderen setzen.

Für die nächsten 90 Minuten führte uns Jens, welcher immer einen guten Spruch parat hat, sicher und zielstrebig durch die Dunkelheit. Unter anderem pausieren wir in einem Wohnzimmer, besuchen einen Supermarkt, überqueren eine Straße und machen sogar eine Bootsfahrt. Eines der Highlights war für viele der Klangraum. In diesem Raum wird Musik nicht nur gehört, sondern auch gefühlt. Der Boden gibt Vibrationen ab, welche mit dem Körper wahrgenommen werden können und so die Erfahrung der Musik intensivieren.

Zum Abschluss kam dann noch eine richtige Herausforderung auf uns zu. Trinken und Essen an der Bar bestellen. Eigentlich eine Alltagssituation, in welcher wir kaum eine Hürde sehen würden. Ohne Sicht wird das Bezahlen mit Scheinen und Münzen, die sich plötzlich alle gleich anfühlen, und das greifen der Flasche, die ja eigentlich direkt vor einem steht, zu einer wirklichen Herausforderung. Dank Jens, gegenseitiger Hilfe und viel Geduld haben wir auch diese Aufgabe erfolgreich gemeistert. Am Ende der Tour angekommen mussten unsere Augen sich zunächst erst wieder an das Tageslicht gewöhnen und es war eine Erleichterung zu spüren, dass man nun wieder seinen gewohnten Sinn zur Verfügung hatte.

Wie abhängig wir von unserem Sehsinn sind und für wie selbstverständlich wir diesen ansehen, wurde uns erneut bewusst, als wir auf dem Weg zurück zur Bahn waren. Im Hellen! Kurz zuvor befanden wir uns in einem geschützten Raum, an der Wand oder am Geländer entlanghangelnd mit Jens, der uns ständig unterstützte und uns leitete. Jetzt in der „realen“ Welt sahen wir die vielen Herausforderungen, welche wir wahrscheinlich vorher gar nicht wahrgenommen hätten. Herumstehende Fahrräder, blockierte Blindenmarkierungen auf dem Boden und verwirrende Wege. All dies war für uns nun, dank unserer Sicht, kein Problem mehr. Doch waren wir nun in der Lage, uns vorzustellen, wie diese vermeintlichen Nichtigkeiten für andere Menschen aus unserer Gesellschaft zu Hindernissen werden können. Obwohl ich für einen Moment heute mein Augenlicht verlor, fühlte es sich an, als ob ich mit offeneren Augen die Welt um mich herum wahrgenommen habe. Ich empfehle jedem Mal solch eine Erfahrung zu machen, denn so wird es uns ermöglicht unsere Mitmenschen besser zu verstehen und gemeinsam in einer inklusiven Gesellschaft zu leben.

Marie Röder, Logopädieschülerin Kurs 17

Veröffentlicht von Norbert Frantzen

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