Komm und iss mit mir – der Imperativ

Logopäden stehen zur Stelle, wenn die Kommunikation noch nicht oder nicht mehr funktioniert. Daher kennen sie sich mit den Sprachzentren des Gehirns, dem Kehlkopf, den Artikulationswerkzeugen und der Grammatik aus. Insofern ist es kein Wunder, dass nicht nur bedürftige Menschen sich an uns wenden. Manchmal sind es auch die Komponenten der Grammatik, die zu uns sprechen. Also, jedenfalls mir geht es so. Der Imperativ spricht manchmal mit mir. Er tut es meistens, wenn er mal wieder um seine Existenz fürchtet. Dann sagt er Dinge zu mir wie dieses: „Hey, du bist doch Logopädin. Und ich weiß, ihr kümmert euch um Phonologie, den Dativ und den Akkusativ und ich weiß nicht was. Aber wir, die Imperative, wir haben auch Probleme. Viele kennen uns nämlich gar nicht mehr in unserer korrekten Form. Wir haben Angst vorm Verschwinden. Bitte tue etwas für uns!“ Und dann hat er mich natürlich an meiner Berufsehre gepackt, der Imperativ. Und ich denke, dass es so wirklich nicht weitergehen darf. Wenn ich sogar in einem Fachbuch den Aufruf (Zitat): „Spreche!“ lese, nicht etwa in der Form des uns vertrauten 1. Singulars ,ich spreche‘, sondern eben als Imperativ, wird mir wirklich schwach ums Herz und ich fühle voll mit ihm, dem Imperativ. Sicher, wir leben in einer Zeit, die Autorität und Befehlston aus dem Alltag weitestgehend verbannt hat. Ja, das ist schon richtig (und gut!). Aber der Imperativ existiert ja nicht nur in manipulativer, rügender Absicht. Er meint es oft sehr gut mit uns, wenn er z. B. ruft: „Iss!“ – weil er merkt, dass du gerade dabei bist, die Mittagspause mal wieder auszulassen. Oder er sagt: „Bleib(e) doch“, was in der Regel sehr freundlich gemeint sein dürfte. Auch sagt er gern: „Sprich mit mir“ und das klingt nach Kontakt, Kommunikation und Verstehen-wollen. Dieser Beitrag ist also eine Unterstützung des womöglich vom Aussterben bedrohten Imperativs und ein Appell, sich ihm in seiner wahren Form hin und wieder zu widmen. Komm, lies, sprich, warte nicht – iss etwas und gib mir etwas ab. 🙂

Veröffentlicht von Beatrice Rathey-Pötzke

Dieser Beitrag hat einen Kommentar

  1. Ingrid Carell Beantworten

    Danke für diesen Artikel.
    Ja, „sprich mit mir, iss mit mir“ sind Botschaften aus dem Herzen, das nichts anderes kann, als liebevoll zu teilen. Alles, was wir teilen, wird mehr. Ein „bitte“ vorher spricht der Landung des Imperativs eine besondere Einladung aus. Der Imperativ lebt in kleinen Kolonien weiter.
    Herzliche Grüße,
    Ingrid Carell

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